Unsere Gesellschaft befindet sich in einem gefährlichen Strudel. Gewalt nimmt zu, Missbrauchszahlen steigen, und politische Meinungen werden immer extremer. Die sozialen Medien verstärken diese Spaltung, indem sie die schnelle Verbreitung von Extremansichten fördern und den Dialog immer häufiger durch Polarität ersetzen. Menschen demonstrieren nicht mehr nur für ihre Überzeugungen – sie demonstrieren gegen andere. Wer eine andere Sichtweise hat, wird angefeindet, verurteilt, gecancelt. Jeder hält sich für die „bessere“ Art von Mensch. Aber was geschieht hier eigentlich mit uns?
Steigende Gewalt - trotz mehr Aufklärung
Jeden Tag werden in Deutschland Frauen, Männer und Kinder Opfer von Gewalt. Die neuesten Zahlen sind alarmierend:
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256.276 Fälle häuslicher Gewalt wurden 2023 registriert – ein Anstieg von 6,5 % im Vergleich zum Vorjahr.
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167.865 Fälle von Partnerschaftsgewalt, wobei 79,2 % der Opfer Frauen waren.
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Die Zahl der sexuellen Übergriffe auf Frauen hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt – von 33.756 Opfern (2013) auf 62.404 (2023) (Quelle: DIE WELT).
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Sexueller Missbrauch von Kindern: 2023 wurden 16.375 gemeldete Fälle registriert – ein Anstieg von 5,5 % im Vergleich zum Vorjahr. Die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen (Quelle: Bundeskriminalamt).
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Vergewaltigungen stiegen von 7.408 Fällen (2013) auf 12.186 (2023) (Quelle: BILD).
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Partnerschaftsgewalt mit Todesfolge: 2023 wurden 155 Frauen und 40 Männer durch ihre (Ex-)Partner getötet – ein alarmierendes Beispiel für die extreme Gewalt, die in Beziehungen eskaliert. (Quelle: Bundeskriminalamt)
Diese erschreckenden Zahlen verdeutlichen, dass trotz mehr Prävention, Aufklärung, Kampagnen und Hilfsangeboten die Gewalt in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft weiter zunimmt. Das wirft die Frage auf, ob wir hier nur eine Steigerung der Anzeigebereitschaft sehen – oder ob es tiefere gesellschaftliche Dynamiken gibt, die nicht ausreichend beachtet werden.
Die narzisstische Gesellschaft und extreme Meinungen
Unsere Gesellschaft ist nicht nur von physischer, sondern auch von emotionaler Gewalt geprägt. Der öffentliche Diskurs ist voller Feindseligkeit:
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Menschen verbieten sich gegenseitig das Denken.
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Jede Seite hält sich für moralisch überlegen.
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Die Mitte schrumpft – die Extreme wachsen.
Wir erleben zunehmend eine immer narzisstischere Gesellschaft. Viele Menschen behaupten: „Heute ist ja jeder Narzisst!“ Auch wenn wir vorschnelle Diagnosen vermeiden sollten, gibt es durchaus wahrnehmbare Parameter, die darauf hinweisen, dass unsere Gesellschaft sich in diese Richtung entwickelt. Narzissmus zeigt sich nicht nur in einer übertriebenen Selbstverliebtheit, sondern auch in einer Gier nach Anerkennung, dem Fehlen von Empathie und der Unfähigkeit, Kritik anzunehmen. In einer zunehmend narzisstischen Gesellschaft geht es nicht mehr um Dialog und Verständnis, sondern um Selbstverwirklichung und die Überzeugung, „auf der richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen – unabhängig von der Wahrheit.
Ein wichtiger Auslöser für Narzissmus sind gestörte Bindungserfahrungen in der Kindheit, wie Missbrauch oder Vernachlässigung, aber auch eine Überhöhung oder Idealisierung des Kindes, ohne sein wahres Selbst zu sehen oder zu spiegeln. Diese Nicht-An-Erkennung kann später eine regelrechte Geltungssucht und Sucht nach Bewunderung und Bestätigung zu entwickeln, um das eigene, fast verlorene Selbst wiederzufinden bzw. die eigene Wertlosigkeit durch Überhöhung zu kompensieren.
Die Narzissmus-Gesellschaft wächst jedoch auch aufgrund eines weiteren Phänomens: Wer selbst Opfer von narzisstischem Missbrauch geworden ist, neigt leider oft unbewusst dazu, erneut solche Persönlichkeiten oder Umfelder zu suchen. So werden diese Menschen unbewusst in die Rolle eines „Flying Monkey“ gedrängt – sie übernehmen die Rolle des Helfers des Narzissten und seiner Überzeugungen, ohne sich der manipulativen Dynamik vollständig bewusst zu sein.
Ein weiteres Beispiel für die Entwicklung einer narzisstischen Gesellschaft ist der immer radikalere politische Diskurs und die zunehmende Verbreitung extremer Meinungen, die kaum noch miteinander auskommen. Besonders während der Corona-Pandemie spaltete sich die Gesellschaft in zwei Lager: „Impfen ist lebenswichtig“ versus „Impfen ist gefährlich“. Ähnlich verhält es sich beim Klimawandel, bei dem sich die Lager in „Klimawandel gibt es“ und „Klimawandel gibt es nicht“ aufgespalten haben.
Neben der politischen Polarisierung zeigt sich Narzissmus auch in gesellschaftlichen Entwicklungen wie der zunehmenden Selbstinszenierung. Die konstante Suche nach äußerer Bestätigung und die Fokussierung auf die eigene Darstellung in sozialen Medien verstärken narzisstische Tendenzen. Die Algorithmen fördern zudem extreme und provokative Ansichten, weil diese Beiträge besser ausgespielt werden und mehr Kommentare erhalten. Egal ob Zustimmung oder Ablehnung: Aufmerksamkeit wird generiert und von den Plattformen belohnt. Das bringt Reichweite und Geld und verstärkt somit narzisstische Verhaltensmuster.
Diese Extreme und Entwicklungen entstehen nicht durch unterschiedliche Meinungen, sondern dadurch, dass keine gemeinsame Basis mehr gesucht wird. Jeder glaubt, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen, sich über „die anderen“ zu erheben und sammelt dafür Zustimmung und Bestätigung. Statt sich durch echte, persönliche Verbindungen zu definieren, wird das Selbstwertgefühl zunehmend über die öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung durch Dritte gesteuert. Dies verstärkt die narzisstischen Tendenzen und verdrängt die Fähigkeit zur Empathie und zum Kompromiss.
Deutschlands Trauma: Die Last der Vergangenheit
Deutschland trägt ein tiefes kollektives Trauma. Im und nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die deutsche Bevölkerung selbst großes Leid – durch Flucht, Vertreibung, Bombardierungen und Vergewaltigungen. Viele verloren Väter, Männer und Söhne an der Front. Doch über diesen Schmerz durfte eigentlich nicht gesprochen werden. Wer sich als Opfer fühlte, wurde daran erinnert, dass Deutschland den Krieg begonnen hatte und den Holocaust zu verantworten hat. Der damalige Tenor lautete: „Ihr habt es verdient!“ Diese reale, kollektive historische Verantwortung veränderte jedoch nicht das persönliche Leid, das jeder Einzelne erlebte. Das Gefühl, sich auch als Opfer zu fühlen und ernsthaft zu trauern, war nahezu unmöglich. Die „Trümmerfrauen“ sind ein gutes Bild für diese Zeit: Weitermachen, aufbauen, überleben. Doch was passiert mit dem Schmerz, der nicht gefühlt werden kann oder darf? Er bleibt.
So entstand eine kollektive Traumatisierung, die sich bis heute zeigt:
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Ein tiefer Schuldkomplex.
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Angst, eigene Grenzen zu setzen („Dann bin ich ja wie die damals!“).
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Unbewusste Aggressionen, die sich auf neue Feindbilder projizieren.
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Ein permanentes Bedürfnis, sich als „bessere Menschen“ zu beweisen.
Der zeitgenössische Mystiker Thomas Hübl spricht von einem „traumatisierten Kollektivbewusstsein“, das auf Verdrängung basiert. Was nicht geheilt wird, wiederholt sich – als Gewalt, als Extremismus, als Opfer-Täter-Umkehr.
Wenn Helfen zur Projektion wird: Warum viele gut gemeinte Kämpfe die Spaltung verstärken
Viele Menschen fühlen sich heute berufen, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Sie kämpfen gegen Ungerechtigkeit, setzen sich für Opfer ein, engagieren sich politisch oder sozial. Das ist auf den ersten Blick bewundernswert – und doch erleben wir gleichzeitig eine wachsende Spaltung, mehr Feindseligkeit und mehr Extreme.
Warum?
Weil viele nicht erkennen, dass sie ihren eigenen inneren Kampf nach außen verlagern. Wer sich ohnmächtig fühlt, sucht oft unbewusst nach einem Feind, den er bekämpfen kann. Wer sich selbst als Opfer sieht, braucht einen Täter, um sich als der „Gute“ zu fühlen. Wer tief in sich Angst oder Wut trägt, findet schnell eine Bewegung, die diese Gefühle kanalisiert. Wer sich innerlich wertlos fühlt, kompensiert es durch moralische Überlegenheit.
Der Drang, die Welt zu „retten“, ist oft ein verzweifelter Versuch, die eigenen, inneren Konflikte zu lösen – im Außen, statt in sich selbst. Natürlich gibt es auch viele Menschen, die sich für Veränderung einsetzen und nur einem tiefen Wunsch nach Gerechtigkeit und Verbesserung folgen. Doch in vielen Fällen wird dieser Wunsch von inneren Konflikten überlagert, die auf unbewusste Weise dann zu noch mehr Polarisierung und Spaltung führen. Der Versuch, äußere Feinde zu bekämpfen, wird oft zur Projektion ungelöster innerer Wunden. Und das führt dazu, dass sich der Kreislauf wiederholt: Kampf gegen Kampf, Opfer gegen Täter, Gut gegen Böse.
Die Falle der Extreme: Wie Trauma die Wahrnehmung verzerrt
Traumatisierte Menschen (die ihr Trauma nicht bearbeitet haben) neigen dazu, in Extremen zu denken. Das liegt auch an der Gehirnphysiologie: Trauma aktiviert die rechte Gehirnhälfte, die für Emotionen und Bilder zuständig ist, während die linke (analytische) Gehirnhälfte gehemmt wird. Das macht es schwer, komplexe Zusammenhänge zu sehen – stattdessen erleben Betroffene die Welt oft in Schwarz-Weiß-Kategorien.
Sprache kann retraumatisierend sein. Deshalb sind logische Argumente oft wirkungslos – Diskussionen eskalieren, weil Menschen mit Trauma sich persönlich angegriffen fühlen oder nicht in der Lage sind, ihre Gedanken kohärent zu ordnen. Dauerstress und Hypervigilanz (ständige Wachsamkeit) führen dazu, dass traumatisierte Menschen Gefahren stärker wahrnehmen als andere. Sie „sehen“ überall Feinde, Unterdrückung, Ungerechtigkeit – auch dort, wo keine ist.
Viele gesellschaftliche Bewegungen werden unbewusst von genau diesen Mechanismen angetrieben. Sie sind kein Ausdruck von klarem Bewusstsein – sondern von ungelöstem Schmerz.
Echte Veränderung beginnt nicht im Kampf - sondern in der Heilung
- Was wäre, wenn du nicht mehr für oder gegen etwas kämpfen müsstest?
- Was wäre, wenn keiner dich mehr zum „Flying Monkey“ machen könnte?
- Was wäre, wenn du deine Energie nicht ins Außen richtest – sondern in dein Inneres?
Die Welt verändert sich nicht durch noch mehr Extreme. Sie verändert sich durch Menschen, die sich selbst heilen – und dadurch mit klarem, ruhigem Bewusstsein handeln.
Es geht nicht darum, Gleichgültigkeit zu entwickeln. Sondern darum, nicht aus Wunden heraus zu reagieren, sondern aus echter Klarheit. Wer seine eigenen Muster erkennt, muss sie nicht mehr im Außen bekämpfen. Wer Frieden in sich selbst findet, muss nicht mehr gegen andere sein. Wer wirklich bewusst wird, braucht keine Feindbilder mehr.
Die wirkliche Veränderung beginnt nicht im äußeren Kampf, sondern im inneren Heilungsprozess. Indem wir uns selbst heilen, tragen wir dazu bei, die Spaltung zu überwinden. Dieser Prozess ist nicht nur individuell, sondern auch kollektiv – wir alle sind Teil einer größeren Gesellschaft, die Heilung und Transformation braucht. Der Weg zu einem friedlicheren Miteinander beginnt in jedem Einzelnen von uns.
Frieden beginnt nicht in der Politik. Nicht in einer Bewegung. Nicht in einem Kampf. Frieden beginnt in dir.
Quellen
Allgemeine gesellschaftliche Entwicklung und Polarisierung:
- „The Righteous Mind: Why Good People Are Divided by Politics and Religion“ von Jonathan Haidt (2012). Haidt untersucht, wie Menschen ihre moralischen Überzeugungen verteidigen und sich von denen abgrenzen, die eine andere Meinung vertreten, was zu Polarisierung führt.
- „Social Media, Political Polarization, and Political Disinformation“ von E. Bakshy, S. Messing und L. Adamic (2015). Diese Studie untersucht, wie soziale Medien politische Polarisierung verstärken und wie extreme Ansichten durch Filterblasen und Echokammern verbreitet werden.
Zunahme von Narzissmus in der Gesellschaft:
- „The Narcissism Epidemic: Living in the Age of Entitlement“ von Jean M. Twenge und W. Keith Campbell (2009). Das Buch beleuchtet die zunehmende Narzissmus-Kultur in der westlichen Gesellschaft und untersucht die Ursachen und Folgen von Narzissmus in der modernen Gesellschaft.
- „The Selfie Generation: How Social Media Is Rewiring Our Brains“ von G. Scott Smith. Diese Studie zeigt auf, wie die ständige Selbstinszenierung in sozialen Medien zu narzisstischen Tendenzen führt.
Selbstinszenierung und soziale Medien:
- „The Narcissistic Personality Inventory“ von Robert Raskin und Howard Hall (1979). Dieses Instrument misst Narzissmus und zeigt, wie Selbstwertgefühl und Selbstinszenierung miteinander verbunden sind.
- „Narcissism and Social Media“ von Carrie M. Bulik und Mark S. Johnson (2017). Diese Studie zeigt, wie der Gebrauch von sozialen Medien die Entwicklung narzisstischer Verhaltensweisen verstärken kann.
Narzissmus, Missbrauch und „Flying Monkeys“:
- „Disarming the Narcissist: Surviving and Thriving with the Self-Absorbed“ von Wendy T. Behary (2008). Behary erklärt, wie Menschen, die unter narzisstischem Missbrauch leiden, unbewusst in die Rolle des „Flying Monkey“ gedrängt werden – Helfer des Narzissten, die seine Manipulationen weiter unterstützen.
- „Narcissistic Abuse and Recovery“ von Ross Rosenberg (2013). Rosenberg untersucht, wie Opfer narzisstischen Missbrauchs wieder in toxische Beziehungen zurückfallen und wie sie in die Rolle von „Flying Monkeys“ geraten können.
Historische Verantwortung und kollektives Trauma:
- „The Trauma of the Nazi Past: Exploring Collective Memory“ von Harald Welzer (2014). Welzer untersucht die Wirkung des kollektiven Traumas in Deutschland und wie es noch immer die Gesellschaft beeinflusst.
- „Trauma and Collective Memory“ von Maurice Halbwachs (1992). Dieser Klassiker in der Traumaforschung erklärt, wie kollektive Erinnerungen und das Trauma nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer das Bewusstsein der Gesellschaft prägen.
Polarisierung und moralische Überlegenheit:
- „The Dark Triad of Personality: Narcissism, Machiavellianism, and Psychopathy“ von Delroy L. Paulhus und Kevin M. Williams (2002). Diese Studie untersucht die Dunkle Triade der Persönlichkeitsmerkmale, zu denen auch Narzissmus gehört, und wie diese mit moralischer Überlegenheit und Manipulationzusammenhängen.
- „The Political Economy of Polarization: The Political Costs of Polarization in Democracies“ von Nolan McCarty (2019). McCarty erläutert, wie zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft die Fähigkeit zur Zusammenarbeit und zum Kompromiss untergräbt.
Psychologie von Trauma und Wahrnehmung:
- „Disorders of the Self: The Neurobiology of Narcissism“ von Ronald D. M. G. Vohs und Elyse Singer. Diese Arbeit beschreibt, wie Trauma und Narzissmus das Gehirn und die Wahrnehmung von Realität beeinflussen und zu Schwarz-Weiß-Denken führen können.
- „The Role of Trauma in Shaping Political Opinions“ von C. H. Peterson (2019). Diese Studie untersucht, wie Trauma die Wahrnehmung verzerren und zu Polarisierung und Extremismus führen kann.